Warum Diplomatie und Mediation derzeit kaum greifen können
In Zeiten militärischer Eskalation wird oft der Ruf nach Diplomatie oder gar Mediation laut. Beides klingt nach Vernunft, nach Gespräch, nach Hoffnung.
Doch weder Diplomatie noch Mediation funktionieren im luftleeren Raum.
Beide Verfahren setzen Bedingungen voraus, die in hoch eskalierten Konflikten wie in der Ukraine oder im Nahen Osten nicht erfüllt sind:
Vertrauen, gegenseitige Anerkennung, Machtbalance – und vor allem die Bereitschaft, Verantwortung für den eigenen Anteil am Konflikt zu übernehmen.
Während Diplomatie die Strategie des Dialogs ist – sie verfolgt politische Interessen und nutzt Verhandlungen als Machtinstrument –, ist Mediation die Ethik des Dialogs: freiwillig, allparteilich und eigenverantwortlich.
Doch in Kriegszeiten ist Freiwilligkeit Illusion, Allparteilichkeit verdächtig, und Eigenverantwortung wird als Schwäche interpretiert.
Was bleibt, sind verfestigte Narrative, verletzte Identitäten und die stille Macht jener, deren Interessen jenseits der offiziellen Verhandlungstische liegen – religiöse Autoritäten, wirtschaftliche Strukturen und geopolitische Allianzen.
Gerade deshalb lohnt sich ein mediativ-analytischer Blick: nicht um Lösungen zu präsentieren, sondern um zu verstehen, warum Lösungen scheitern – und welche Voraussetzungen überhaupt geschaffen werden müssten, damit Verhandlungen wieder möglich sind.
Der Blick der Mediationswissenschaft
In der Sicht von Joseph Duss-von Werdt ist jeder Konflikt eine soziale Konstruktion – das Ergebnis subjektiver Deutungen und Zuschreibungen.
Solange diese Wirklichkeitskonstruktionen verhandelbar bleiben, kann Mediation wirken.
Doch wenn Deutungen zur Wahrheit erhoben werden, verfestigt sich das Konfliktfeld.
Dann gilt nicht mehr: „Ich habe eine Perspektive“, sondern: „Ich bin die Wahrheit.“
Glasls Eskalationsmodell – jenseits der Rückkehr
Friedrich Glasl beschreibt neun Eskalationsstufen, beginnend mit Spannungen und endend mit „Gemeinsam in den Abgrund“.
Die meisten internationalen Konflikte befinden sich jenseits von Stufe 7, wo Kommunikation nur noch als Kampfhandlung erlebt wird.
Selbst diplomatische Gespräche dienen dann vor allem der Positionssicherung oder Symbolpolitik.
Das erklärt, warum Friedensgespräche oft torpediert werden:
Verhandlungen setzen Vertrauen voraus – doch Vertrauen ist in dieser Phase keine Ressource mehr, sondern ein Risiko.
Galtungs Konfliktdreieck – Gewalt hat viele Gesichter
Der norwegische Friedensforscher Johan Galtung beschreibt Konflikte als Dreieck aus
- personaler Gewalt (sichtbar: körperliche Angriffe, Krieg, Unterdrückung),
 - struktureller Gewalt (unsichtbar: ungleiche Lebensbedingungen, wirtschaftliche Abhängigkeit, soziale Ausgrenzung) und
 - kultureller Gewalt (Legitimation durch Ideologien, Religionen, Mythen).
 
Diese drei Ebenen bedingen einander und halten sich gegenseitig aufrecht.
In der Ukraine stützen nationale Narrative („Befreiung“, „Verteidigung“, „Entnazifizierung“) die kulturelle Gewalt, während strukturelle Gewalt (Gebietsbesetzungen, Sanktionen, Energieabhängigkeiten) personale Gewalt begünstigt.
Im Gaza-Konflikt legitimieren religiöse und historische Deutungen („Heiliges Land“, „Widerstand“, „Auserwähltheit“) die kulturelle Gewalt; die strukturelle Gewalt zeigt sich in jahrzehntelanger Ungleichheit, eingeschränkten Lebensbedingungen und fehlender Perspektive.
Bertolt Brecht erinnerte uns daran, dass Gewalt sich nicht nur in Bomben oder Kugeln manifestieren kann, sondern auch in Hunger, Krankheit, Armut und struktureller Ausgrenzung. Diese unsichtbaren Formen sind Teil dessen, was Galtung als strukturelle Gewalt beschreibt – und sie machen jede Waffenruhe zur bloßen Atempause.
Doch Galtungs Konzept reicht weiter:
Es hilft auch, Gewalt im Kleinen zu verstehen – in Familien, Teams, Schulen oder Organisationen.
Wo Menschen sich systematisch entwertet, ausgeschlossen oder verurteilt fühlen, entsteht strukturelle oder kulturelle Gewalt.
Und aus ihr kann, manchmal scheinbar unerklärlich, personale Gewalt werden.
So lässt sich manche Gewalttat, die uns fassungslos macht, wenigstens einordnen – als Symptom einer tiefer liegenden Verletzung, nicht als plötzlicher Irrsinn.
Harvard-Verhandlungskonzept – wo „Win-Win“ endet
Das von Roger Fisher und William Ury entwickelte Harvard-Konzept (1981, erweitert durch Bruce Patton 2011) basiert auf fünf Prinzipien:
1️⃣ Menschen und Probleme trennen
2️⃣ Interessen statt Positionen fokussieren
3️⃣ Optionen zum beiderseitigen Vorteil entwickeln
4️⃣ Objektive Kriterien anwenden
5️⃣ Eine BATNA (Best Alternative to a Negotiated Agreement) entwickeln
Diese Prinzipien setzen voraus, dass alle Beteiligten ihre Interessen offenlegen können, ohne Identität oder Existenz zu gefährden.
In geopolitischen Konflikten jedoch verschmelzen Identität und Position.
Wer an den Verhandlungstisch geht, gilt als Verräter; wer Kompromisse eingeht, verliert Legitimation. Damit scheitert das Harvard-Modell nicht an seiner Logik, sondern an der Realität:
Es ist für Konflikte gemacht, in denen Vertrauen möglich ist.
Die stille Macht der Stakeholder
Jenseits der sichtbaren Akteure wirken die unsichtbaren:
Rüstungsindustrien, Bündnisse, religiöse Institutionen, mediale Narrative, wirtschaftliche Interessen.
In der Mediation spricht man vom „System hinter dem System“ – den unbenannten Kräften, die das Konfliktverhalten steuern.
Solange diese Stakeholder – bewusst oder unbewusst – ein Interesse am Fortbestehen des Konflikts haben, bleibt jeder Friedensprozess prekär.
Was wir als Mediator*innen daraus lernen können
- Mediation ist keine Naivität, sondern die Kunst, Dynamiken zu verstehen.
 - Neutralität bedeutet nicht Gleichgültigkeit, sondern das Verstehen aller Realitäten.
 - Und: Dialogfähigkeit ist kein Zeichen von Schwäche, sondern der einzige Beweis von Zivilisation.
 
Quellen
- Duss-von Werdt, J. (2015). Mediation – Geschichte, Theorie, Praxis.
 - Glasl, F. (2013). Konfliktmanagement. Ein Handbuch für Führungskräfte, Beraterinnen und Berater.
 - Galtung, J. (1996). Peace by Peaceful Means.
 - Fisher, R.; Ury, W.; Patton, B. (2011). Getting to Yes – Negotiating Agreement Without Giving In.
 
Interessante Links
- Wer sich tiefer mit Friedens- und Konfliktforschung befassen möchte, findet auf den Seiten der Berghof Foundation umfassende Materialien, Studien und praxisnahe Ansätze zur Konflikttransformation.
 - Vergleichbare Forschungsansätze verfolgt auch das Schweizer Friedensinstitut swisspeace, das seit Jahren Friedensprozesse weltweit wissenschaftlich begleitet.
 - Bürgermediation – Konfliktlösung in der Gemeinde
 - Barcamp Mediation Reutlingen – Austausch, Praxis, Inspiration
 
Wenn Reden nicht mehr möglich scheint, bleibt Zuhören.
    Ob im Großen oder im Kleinen – jedes Verstehen beginnt mit der Entscheidung, 
    nicht in der eigenen Wahrheit zu verharren.
    Ich begleite Menschen, Teams und Organisationen auf diesem Weg.
  

